Kategorie-Archiv: Auf Deutsch

Texte auf Deutsch

Homeward bound

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Die letzte Etappe: ausgedehnte Heidelandschaft bei Münsingen, eine letzte Zeltnacht auf einer Wiese am Waldrand kurz vor Bad Urach, und am nächsten Tag erreichte ich mit einer Viertelstunde Verspätung die Burkhardtsmühle, von wo aus liebe Freunde mich auf dem letzten Stück Heimweg eskortierten. Es erwartete mich, den Heimkehrer, ein herzlicher Empfang, die Eltern, Freunde, Bekannte, Nachbarn – ich war angekommen, nach 14 Monaten, 14.224km und 163.718 Höhenmetern auf dem Fahrrad war ich wieder zuhause!
Für die Aufnahmen zu diesem Beitrag danke ich Annegret und Julia.
Seit
Ulm 122km und 1.104 Höhenmeter, seit Madrid 3.186km und 36.893 Höhenmeter.

Im Vorfeld der Reise, vor gut 14 Monaten, habe ich mit dem deutschen Botschafter in Kolumbien telephoniert, um zu fragen, ob man das machen kann – eine Raddurchquerung Südamerikas: „keine gute Idee“. Diese Unternehmung wurde eine der besten Ideen meines Lebens.
Ich bin ziemlich unbedarft aufgebrochen, ohne viel von dem zu wissen, was mich erwartete, ohne von den Ländern mehr zu kennen als ihre statistischen Eckdaten. Der Großteil der touristischen Reisebuchliteratur beschäftigt sich mit der Beschreibung von historischen Bauten und den klassifizierten Sehenswürdigkeiten. Das war nicht, wofür ich mein geordnetes Leben hier zurückließ. Ich wollte ein Stück anderer Welt erfahren, ein Stück mehr von der Palette des Lebens.
Auf ein solches Vorhaben kann man sich nicht vorbereiten, ich wuchs da hinein: We grow with the challenges we take, we grow when we dare (Stay hungry, stay foolish).
Und ich hatte Glück, so eine seltsame Art Dauerglück für 14 Monate. Nie hätte ich mir einen Begriff gemacht von der Offenheit, Aufrichtigkeit und Herzlichkeit der Leute, die ich traf auf meinem Weg. Ich traf Fremde auf der Straße, die mich aufnahmen und ihr Leben mit mir teilten, Dorfgemeinschafen, die mich zu ihre Festen einluden (Dancer in the Dark, La Corrida, High Falls), einen Grenzpolizisten, der bereit war, mich über eine geschlossene Grenzstation nach Argentinien zu schleusen, ein equatorianisches Paar, das mir, als ich bargeldlos in einem Dschungeldorf strandete, Geld für die Etappe zur nächsten Kleinstadt schenkte, einen argentinischen Fahrradmechaniker, der mit mir zwei Stunden lang den blockierten Freilauf zerlegte, Vorüberfahrende, die mir aus dem Autofenster Cola-Dosen reichten, Straßenarbeiter, die unbedingt mit mir photographiert werden wollten. Ich könnte diese Aufzählung endlos fortsetzen; von vielen dieser Begegnungen hat mein Blog erzählt.
Ich sah harte Armut, Bambushütten, Häuser ohne Fußboden, Dörfer ohne Wasseranschluß, Kleinstädte umgeben von Plastikmüll, den jeder Regen durch die schlammigen Straßen spülte, ich sah die Arroganz der Reichen in ihren schwer bewachten Villenvororten, ich sah die Rücksichtslosigkeit, mit der Minengesellschaften das Lebensumfeld der lokalen Bevölkerung für immer zerstören. Ich sah die Jagd auf die letzten Reserven in der Unberührtheit am Ende der Welt, den Ölrausch im patagonischen Río Grande.
In diesen letzten beiden Monaten, in denen ich von Madrid aus durch Europa nach Musberg radelte, hatte ich oft den Eindruck, daß das Leben hier um belanglose Luxusprobleme kreist, daß der westliche Lebensstandard, dessen Verheißungen die Konsumindustrie propagiert und dessen verheerende Auswirkungen ich kennengelernt hatte, nicht glücklicher macht. Das offene Lachen, das mir aus den Gesichtern am Rand der staubigen Pisten oft entgegengeleuchtet hatte, war seltener geworden.
Als Radreisender hat man leichtes Gepäck.
Ich lernte, daß es sich lohnt, mit Erfahrungen statt mit Dingen zu leben. Daß es sich lohnt, leichter zu leben. Fortsetzung folgt.

Unter Freunden

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Diese Tage an denen wir glaubten
Wir hätten nichts zu verlier’n
Tote Hosen, Altes Fieber

In Donaueschingen, wie abgesprochen auf die Minute um 11Uhr am Bahnhof, traf ich meinen Schulfreund Andreas, der es sich trotz der Terminkollision mit dem Kindergeburtstag seines vierjährigen Sohnes nicht nehmen lassen wollte, diese Etappe im Donautal mit mir zu radeln: „Du kommst von einer solchen Reise nur einmal heim“.
Durch idyllische Täler folgten wir dem Lauf der jungen Donau, vorbei an verträumten Burgen und über Felder, rot gefleckt von blühendem Mohn. Den Verlockungen der Kirmes bei Tuttlingen konnten wir nicht ganz widerstehen. An einer lauschigen Biegung des Flußes, am Jägerhäuschen, mit dem mich unerwartet eine Kindheitserinnerung verband, schlugen wir unsere Zelte auf. In unserem Erzählen all der Jahre seither, der Lebenslinien, denen wir folgten, war die alte Vertrautheit, die die Zeit vergessen ließ. – Wenig fehlte, daß wir nach einem gemütlichen Abendessen im benachbarten Jugendlager die Fahne geklaut hätten.
Ein zäher Gegenwind machte uns am nächsten Tag zu schaffen, und nachdem wir in Riedlingen außer einem Kuchen auch die Anerkennung genossen hatten, die unsere bepackten Fahrräder bei der versammelten Philosophenrunde im Café hervorriefen, entschieden wir uns für den Trick, den Donauradweg anzutäuschen und zum Bahnhof abzubiegen. So radelten wir, von Blaubeuren her kommend, bereits am frühen Abend in Ulm ein, wo uns Anna und Lukas warmherzig begrüßten. Gemeinsam erwartete uns ein volles Programm: das Ulmer Münster, das Mitfiebern beim WM-Spiel im Biergarten und am Abend das süffige Konzert des abgehalfterten, aber bestgelaunten Violinvirtuosen N.Kennedy.
Es war mein erster Besuch bei ihnen und das erste Mal, daß ich das sicherlich nicht immer leichte, das willentlich beständige Glück der jungen Familie, der alten und neuen Freunde, kennenlernen und teilen durfte – ein Lebensentwurf, der in seiner sanften Verbindlichkeit so ganz anders war als mein unstetes Wanderleben, und für mich eine herzliche Begegnung, die einmal mehr bewies, was ich auf dieser nun zurückliegenden Reise verstanden hatte: daß es im Leben einzig auf die Menschen ankommt, mit denen wir uns umgeben, mit denen wir es gestalten.
Seit Donaueschingen 157km und 732 Höhenmeter.

Auf der Seenroute durch die Schweiz

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Nirgendwo habe ich ein so flächendeckendes, so durchdacht angelegtes, perfekt ausgebautes und sorgsam beschildertes Netzwerk an Velo-Wegen gesehen wie in der Schweiz. Hier war es tatsächlich möglich, ohne Gefahr für Leib und Leben und sozusagen mit dem Autopiloten ein ganzes kleines Land zu durchqueren.
Wie immer wieder in den vergangenen Wochen hatte ich oft den Eindruck, daß sich Kreise schließen, spontane Reminiszenzen an Situationen und Begebenheiten früherer Reiseetappen: als ich auf der Abfahrt vom Pass des Dent du Lyc während eines ordentlichen Sommergewitters mit dem schweigsam-zufriedenen Wirt unter dem Dach seiner Alm karge Worte wechselte wie mit den peruanischen campesinos, als die Steigung zum Bönigpass wie damals beim Paso Jama kein Ende nahm, als der Automechaniker nach dem Ölen meiner Kette ein Trinkgeld ablehnte („ach komm, laß“) wie einst im Fahrradladen von Macas, als ein sintflutartiger Regenfall die Straßen Luzerns innerhalb von 20 Minuten flutete wie auf der Exkursion ins kolumbianische Eje Cafetero die Sandpisten.
Und dann das unvermittelte Erstaunen, als ich nach 14 Monaten wieder auf Deutsch angesprochen wurde, im deutschen Sprachraum des Berner Oberlandes. Zum ersten Mal auf dieser Reise wußte ich nicht, wie ich grüßen sollte: ein einfaches ‚Hallo‘ schien mir klanglos, das ‚Guten Tag‘ zu steif, das schweizerische ‚Griaß Di‘ zu salopp und anbiedernd. Und bis ich zum kernigen ‚Servus‘ gefunden hatte, war ich über Zürich und Schaffhausen schon wieder nach Deutschland gelangt.
Lausanne – Donaueschingen: 414km, 4.806 Höhenmeter.
Karte folgt.

Lausanne: Escale au Paradis

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And I am dumb to tell a weather’s wind
How time has ticked a heaven round the stars.
D.Thomas, The Force That…

Nach einer zweiten Zeltnacht im Kurpark von Aix-les-Bains folgte ich der spektakulär ans felsige Ufer des Lac Bourget gebauten Straße nach Genf. In dieser mondänen Kleinstadt gibt es mehr luxuriöse Autos als geschäftige Einwohner, und mittlerweile sind die in schwarzen Burkas verhüllten Frauengestalten zahlreicher noch als die Uhrenläden. Mehr Charme besitzt das rauhere Lausanne, und die vertraute Kette der schmucken Dörfer entlang des Lac Léman versetzte mich wie die rückwärtslaufende Spule einer Zeitmaschine in die glücklich-erwartungsvolle Stimmung jenes früheren Aufbruchs, als ich in der École Polytechnique das unbeschwerteste Jahr meines Studiums verbrachte. Da war wieder dieser Geschmack, dieser trockene, würzige Duft von Zypressen, der mich vor sieben Jahren dort am Bahnhof, nichts als einen Koffer in der Hand, begrüßt hatte. Herzlich war die Begegnung mit meinem damaligen Vermieter, Ms.Carrupt, mit dem ich in den folgenden beiden Tagen das besonnte Plateau des Jura-Massivs durchquerte, die eigenwillige Architektur der neuen Campus-Bibliothek beging und lange, milde Abende in entspanntem Freundeskreis genoß – Wiederentdeckung eines Stücks gelebten Lebens, dessen Erinnerung immer in Menschen und Orten aufbewahrt ist.

Tomorrow never dies – Zum Ende des Yasuni-Projekts

„Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“
Ö.Horvath

Noch in Südamerika erfuhr ich’s gerüchteweise, nun ist es amtlich: die Yasuni-Initiative ist gescheitert. Es war die einzigartige Offerte Ecuadors, gegen eine finanzielle Beteiligung der Weltgemeinschaft das im Yasuni-Nationalpark, einem der artenreichsten Bioreservate der Erde, entdeckte Öl im Boden zu lassen. Ich habe darüber vor knapp einem Jahr berichtet („A dangerous flirt“). Hier ein offener Brief an einen der Funktionäre, die das Projekt torpediert haben; ich nenne ihn Dirk.

Hallo Dirk,
du hast sicher schon früher und nicht erst aus der Zeitung vom Ausgang der Yasuni-Initiative erfahren, zu deren Scheitern du erfolgreich beigetragen hast. Damit geht eines der artenreichsten Bioreservate unseres Planeten für immer verloren. Wie geht es dir?
Ich weiß ja, Dirk, du hast deinen Job nie gewollt, du wolltest den Posten abschaffen, bevor er dir in der parteipolitischen Stellenrochade zufiel. Und ich kann mir vorstellen, wie schwer es ist, für etwas zu arbeiten, zu dem man sich nicht berufen fühlt. Es ist schon okay, wenn man dann ordentlich Schmerzensgeld kassiert.
Weißt du, Dirk, viele Menschen sagen ‚wir wollen eigentlich ganz anders leben, aber wir können nicht‘, und Politiker sagen dann: der Sachzwang. Ich denke, wir geben unseren Kopf oft zu früh ab. Und des konni ned hoam: jeder ist verantwortlich für sich, für das was er tut, für das was er nicht tut. Und oft ist, wie in deinem Fall, letzteres bedeutsamer.
Vielleicht hast du recht, Dirk: auf das bißchen Regenwald kommt’s auch schon nicht mehr an. Wo kommen wir denn hin, wenn wir anfangen, irgendwelche Schwellenländer am Amazonas dafür zu bezahlen, daß sie etwas nicht tun? Und Superlative kann man überall hinkleben, auch ich habe die 2.274 Baumarten, die 593 Vogelarten und die 100.000 Insektenarten pro Hektar nicht gezählt. Dagegen hängt in Deutschland jeder vierte Arbeitsplatz direkt oder mittelbar an der Automobilindustrie, das ist unsere Wirklichkeit, wir brauchen das Öl, und die Leute sollen deutsche Autos fahren, damit es uns gut geht. Auch die Kanzlerin blockiert ja seit Jahren angemessene europaweit geltende Abgasnormen, wo es doch sonst für alles eine EU-Norm gibt.
Dafür schicken wir dann jedes Jahr Abiturienten auf den Selbsterfahrungstrip in die armen Länder dieser Welt, die dort Brunnen bohren, Waldlehrpfade anlegen und Bäume pflanzen. Einige habe ich auf meiner Reise auch getroffen.
Du erlaubst eine kurze Nebenrechnung: ein Barrel Öl produziert etwa 433kg Kohlendioxid. Man vermutet im Yasuni-Park 900 Millionen Barrel Rohöl, die dort gespeicherte CO2-Menge beträgt also 389.700.000 Tonnen CO2. Ein Hektar Wald absorbiert jährlich 10 Tonnen CO2. Wenn Du der Menschheit noch etwas Gutes tun willst, Dirk, dann fang doch schon mal an zu pflanzen.
Denn weißt Du, Dirk, irgenwie hänge ich noch immer an der alten Idee, daß Politiker gewählt werden, nicht um die Wirklichkeit einfach hinzunehmen, sondern um Wirklichkeit zu gestalten. Sonst tun das andere.

Sachertorte

Ein gängiges Klischee unterstellt dem Südamerikaner Unehrlichkeit im Umgang mit Geld; kein Reiseführer, der nicht vor Falschgeld und Wechselgeldhehlerei warnte. Dieses Klischee ist falsch. Ich habe nie Probleme mit Falschgeld gehabt, nicht einmal, als ich in Buenos Aires in Hinterzimmern Dollars tauschte. Im Gegenteil: ich erinnere eine Situation, als ich in Riobamba, Ecuador, morgens ein Internetcafé betrat und die Besitzerin mir unter Entschuldigungen eine Münze in die Hand drückte – sie habe bei der Abrechnung bemerkt, daß mir ihre Tochter am Vorabend zuviel kassiert hatte.
Europäer scheinen solche Skrupel nicht zu kennen: ich habe in einem Monat Europa im Touristennepp mehr Geld verloren als in einem ganzen Jahr Südamerika (ausgenommen der Taxibetrug in BA). Und ich habe es satt, bei gefühlt jeder sechsten Dienstleistung für den ausstehenden Tourismus einer ganzen Saison bepreist zu werden. Zuletzt in Seu d’Urgell: nach der Pizza hatte ich eine Tasse Schokolade bestellt, der Kellner brachte stattdessen ein Stück Schokoladenkuchen. Nun, man will den Leuten nicht übermäßig auf die Nerven fallen, und der Kuchen sah gut aus – mir blieb allerdings der letzte Bissen im Hals stecken, als dieses unschuldige Schnittchen mit dem Preis einer ganzen Pizza auf der Rechnung stand. Ich beschwerte mich und verlangte eine gedruckte Preisindikation. Der camarero murmelte pikiert etwas von „torta casera“ und flippte minutenlang durch die Dessertkarten – immer war da nur das verlockende Bildchen einer Schokotorte. Der Chef wurde gerufen und brachte schließlich, woher auch immer, eine Liste mit dem entsprechenden Posten bei. Ich gab den case verloren.
Was ist die Lehre aus der Geschichte? Daß ich nun vor jeder Tasse Tee nach ihrem Preis frage? Viel dominanter als in der lateinamerikanischen bestimmt das Geld in unserer Kultur jede Interaktion, zumal die flüchtige des Reisenden, bis hinein in jede Beziehung. Adorno hatte ein feines Gespür für das Tauschprinzip: „Der Qualität eines jeden der ungezählten Autos, die am Sonntagabend nach New York zurückkehren, entspricht genau die Hübschheit des Mädchens, das darin sitzt.“ (Minima Moralia, „Ne cherchez plus mon coeur“)*. Denkstoff für das nächste Stück Sachertorte.

*Nebenbemerkung: Daher ist auch die von den selbsternannten Wächtern der Sittenmoral erwartbar in der letzten Vorweihnachtszeit angezettelte Diskussion um ein Prostitutionsverbot in Deutschland nichts anderes als: scheinheilig.

Lourdes

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Von Westen her kommend radelte ich direkt ins Sanctuaire, dessen Grünanlage ich zunächst für eine kirchliche Geriatrie hielt. Rund um die Basilika war eine vielfarbige, vielsprachige Menschenmenge versammelt, die dort dem Singsang lauschte, den ein Priester auf einem Sockel unter der Statue S.Bernadettes durch die Lautsprecher säuselte. Seine Predigt versetzte einen authentisch direkt zurück ins Mittelalter: da gab es noch die ´Feinde der Kirche´, die ´falschen Propheten´, die uns vom rechten katholischen Weg abbringen wollen, und immer war der Moment der Entscheidung, der finalen Rettung gerade jetzt. Nach dem Fürbittengebet scharten sich die Pilger in Gruppen: die Deutschen und die Iren waren die ersten, die Italiener die letzten, die sich hinter ihren Landesflaggen in Viererreihen formierten; den Abschluß der Prozession bildete jedoch die größte Gruppe der Fußkranken, die in Karren gezogen und in Rollstühlen geschoben wurden. – Ich hoffe sehr für die mit gelben Dreieckstüchern markierten Helfer, daß die nicht alle bis Santiago wollten.
Die Stadt selbst scheint überhaupt nur aus Hotels und Andenkenläden zu bestehen: da gibt es alles, den ganzen katholischen Wahnsinn, Kerzen und Kalender, Medaillen und Figurinen, Rosenkränzchen und Pilgerkäppchen, und Kanister bis 5l für das heilige Wasser aus der Bernadette-Grotte, für das die Bedürftigen Schlange standen. Am Abend fluteten Uniformierte die Gassen, Soldaten aller Corps und Legionen, die für die kommenden drei Tage das Prozessionsspektakel gestalten würden: gefolgt von den purpurgewandeten Würdenträgern, vor denen die Gläubigen auf die Knie sanken, marschierten sie am folgenden Tag zu den Worten „Liebet eure Feinde“ im Stechschritt – Männer und, jaja, auch Frauen, deren Handwerk, machen wir uns nichts vor, nicht das Possieren in adretten Uniformen, sondern das Töten von Menschen ist.
Am Nachmittag betrat ich die Basilika. In der letzten Reihe kniete dort ein früh ergrauter Mittvierziger in Kampfuniform mit kroatischem Abzeichen, der wirr an seinen Händen nestelte. Ein kurzes Gespräch später bestätigte meine Vermutung: you know, when the demons come at night, you know. – Ich wünsche uns allen, auch denen, die da draußen paradierten, daß uns seine Erfahrungen erspart bleiben.
It was time to carry on.

Lourdes1
Video anschauen! Is this sarcasm or already madness?
(Falls das Plugin streikt: Rechtsklick auf den folgenden Link, „Ziel speichern unter…“ u. manuell aufrufen): Militärparade in Lourdes

Die westlichen Pyrenäen

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Kurz nach dem kleinen Pass Lerga sah ich zum ersten Mal, mit nicht geringem Schrecken, die weiße Kulisse der Pyrenäen in der Ferne aufragen. Ich hatte mit einer solchen Schneedecke um diese Jahreszeit nicht mehr gerechnet und konnte nur hoffen, daß die tunnellosen Übergänge, die ich fahren wollte, bereits geräumt waren.
Eine unliebsame Überraschung war die unangekündigte Sperrung der Uferstraße am Stausee Yesa; der Wachmann an der Absperrung riet mir zu einer Umfahrung am anderen Ufer, ein Umweg von etwa zwei Tagen. Da man sich als Radfahrer in Europa ohnehin meist in rechtlichen Grauzonen bewegt (Warnweste?, Helmpflicht?), wählte ich stattdessen für 8km den Standstreifen der parallel verlaufenden Autobahn. Das für jeglichen Verkehr gesperrte Nordufer bot mir nun, von der anderen Seite her kommend, wunderbare, ungestörte Zeltmöglichkeiten, und ich verbrachte zwei Nächte auf einer Steilklippe über dem tiefblauen Wasser. Die am Ufer liegenden Dörfer, obwohl noch auf der Karte verzeichnet, sind seit der Landnahme des Stausees-Projekts verlassen; in den kommenden Jahren soll der See gegen den Widerstand der örtlichen Bevölkerung weiter vergrößert werden, um die Trinkwasserversorgung Zaragozas sicherzustellen.
Im Tal des Rio Esca schraubte ich mich stetig aufwärts, eine Nacht noch auf einer Almwiese, bevor ich gegen einen eisigen Frontalwind die letzten Kehren zum Col de St.Martin auf 1773m in Angriff nahm. Fröstelnde, leichtbekleidete Rennradler überholten mich auf den letzten Kilometern, am Pass traf ich den freundlich lachenden Franzosen Pierre, der mir eine wunderschöne, steile Waldabfahrt empfahl: der Frühling hatte mich wieder, Wassergeplätscher und Vogelgezwitscher, wärmender Sonnenscheini auf den französischen Auen. Am nächsten Tag schon, früh geweckt von einer Wandergruppe, erreichte ich nach einigem Auf und Ab im hügeligen Vorland der Pyrenäen Lourdes.
Seit Burgos habe ich 507km und 6.282 Höhenmeter zurückgelegt.
Karte folgt.

Im Baskenland

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Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ „Oh!“ sagte Herr K. und erbleichte.
B.Brecht, Das Wiedersehen

In Burgos, vor der prächtigen Kulisse der Kathedrale, traf ich meine Eltern, begegnete ich nach Jahr und Tag meinem Vater wieder.
Wer könnte einen solchen Moment beschreiben? Alles war anders und alles war vertraut. All die Erfahrungen, die Begegnungen, das Gelebte seither – welche Spuren hinterläßt es, wie verändert es einen? Inwieweit entspricht einer noch dem Bild, das der andere sich in der Zwischenzeit bewahrt hat? Und das sich im Lauf der Tage und Wochen und Monate selbst gewandelt hat? Wie verhält man sich zu dieser Differenz? Was knüpft an, was setzt sich fort? Das sind nicht Fragen die sich stellen, sondern Fragen deren Antworten sich ergeben.
– Wir verbrachten heitere, unbeschwerte Tage des Erzählens und Nachholens, Tage, in die kaum ein Schatten der ungewissen Zukunft fiel. Wir genossen den spanischen Frühling, wandernd in den Gipfeln der Picos de Europa, spazierend entlang der steil in den Atlantik abfallenden Felsküste.
Am Vormittag unseres vorläufigen Abschieds in Bilbao besuchten wir das Guggenheim-Museum. Dieses Museum stellt, abgesehen von ein bißchen Konzeptkunst, vor allem sich selbst aus: den spektakulären, überwältigend verschachtelten, vielperspektivischen Bau des amerikanischen Architekten F.Gehry. Wer die Komplikationen kennt, die schon ein einfacher Umbau des Eigenheims verursachen kann, den wird besonders beeindrucken, daß ein solches Jahrhundert-Projekt plangemäß in vierjähriger Bauzeit und im Budgetrahmen fertiggestellt wurde.
Nach dem Abschied am Flughafen kehrte ich für einige Tage nach Burgos zurück.

Europa wieder

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Nach zwölfstündigem Flug und 10.000 Kilometern landet der Airbus A340 komplikationslos in Madrid, und um 17.30 Uhr Ortszeit betrete ich erstmals wieder europäischen Boden. Noch am Flughafen befreie ich das zerlegte Fahrrad aus dem Karton und fahre nach 1,5stündiger Montage in die Innenstadt. Es ist dort der Tag des Buches und des Champions League-Spiels München gegen Madrid.
Wie fühlt es sich, wieder in Europa zu sein? Der erwartete Kultur- ist zunächst vor allem ein Preisschock – alles genau dreimal so teuer wie noch in Argentinien, und für alles muß gelöhnt werden: vom Gepäckwagen am Flughafen bis zum Lächeln des Kellners, der mir später im thailändischen Restauant ein vegetarisches Essen serviert, so delikat wie ich es auf dem Kontinent der Carnivoren seit Ricardos Abschiedsmahl in Santiago nicht mehr hatte. Schwierig eine Unterkunft zu finden, die mich mit dem Fahrrad aufnimmt: die Leute leben in Sorge um ihre tapezierten Wände.
Beim Abendspaziergang durch die Innenstadt komme ich mir vor wie in einer niedlichen Spielzeugwelt: gediegene Fassaden, alles so sauber, die Trottoirs ohne Ausschau nach Löchern und Brettern gefahrlos begehbar, fein gekleidete, dezent parfümierte Passanten, die mit putzigen Chihuahuas aus makellos glänzenden Autos steigen, gern zur Schau getragener Wohlstand, fancy stuff.
Am nächsten Tag besuche ich eine Ausstellung über Pixar, die Firma, die in den 80er Jahren mit den ersten klotzigen Animationsfilmen begann und von S.Jobs an Disney verkauft wurde. Ein Stück der Geschiche meiner Generation auch, die wir gerade noch eine Welt ohne die Omnipräsenz elektronischen Spielzeugs kannten. Den Nachmittag verbringe ich mit der vergeblichen Suche nach benzina blanca für meinen Benzinkocher: hier braucht man dazu wahlweise einen Waffenschein oder eine abgeschlosse Sprengmeister-Ausbildung.
Dann mache ich mich wieder auf den Weg, teilweise auf der Autobahn (Polizisten winken resolut, ich winke freundlich zurück) im Frühlingsregen sanft ansteigend bis zum 1500m-Pass bei Somosierra, dann über Land durch Kastilien bis Burgos. Unterwegs in den verfallenen Dörfern nette Unterhaltungen mit den Alten, die gelassen vor ihren Steinhäusern in der Sonne sitzen und von ihren Kindern erzählen, Kinder, die längst in die Städte oder zum Arbeiten nach Deutschland gezogen sind.
In Burgos, vor der prominenten Kulisse der Kathedrale, treffe ich herzlich meine Eltern, begegne nach Jahr und Tag meinem Vater, und alles war anders und alles war vertraut.