Kategorie-Archiv: Auf Deutsch

Texte auf Deutsch

Streifzüge

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„Was wir wollen, ist des Zufalls Spiel; Nur der Weg ist unser, nicht sein Ziel.“
nach W.Shakespeare, Hamlet

Mein Plan war, für die verbleibenden Tage ins 300 ebene Kilometer entfernte Rosario zu radeln, das als die kulturell zweitbedeutendste Stadt Argentiniens gilt. Ich stürzte mich also in den Verkehr, der es an Chaos durchaus mit der Stadtausfahrt von Bogotá aufnehmen konnte, und erreichte bald das erfrischende Grün des Küstenstreifens am Río de la Plata, dann die gediegenen Vororte San Isidro und Tigre, in denen sich die Porteños vom Stadtleben erholen.
Meine Exkursion sollte mich durch sämtliche Schichten der argentinischen Gesellschaft führen – am nächsten Vormittag zunächst durch die Siedlungen der Bessersituierten, deren schmucke Villen auf grünem Rasen hinter schwer bewachtem Drahtzaun liegen: Kameras, Wachtürme und bewaffnete Eingangskontrollen.
Gegen Mittag fand ich mich auf dem Standstreifen der sechsspurig ausgebauten Panamericana wieder, nach 120km die Sinnfrage: what am I doing here? Meine letzten Fahrradtage in Südamerika wollte ich nicht auf einer Autobahn verbringen. Es geht nicht ums Ankommen, um das Ziel, es geht ums Unterwegssein und die Erfahrungen unterwegs. Ich brach ab und radelte ins nächste Dorf, Campana bei Zárate. Die Linien, die man reisend auf die Landkarte zeichnet, müssen nicht schlüssig sein; Wege, wie Biographien, sind interessanter mit Brüchen, mit Wendungen und Zwischenfällen.
Campana erwies sich als rege, aber gemütliche Industriestadt, bekannt durch große Firmen der Ölindustrie und ansässige Unternehmen wie das italienische Siderca, das mit seinen schweißnahtlosen Röhren knapp ein Drittel des Weltmarktangebots stellt. Ich unterhielt mich darüber mit dem freundlichen Wirt meiner einfachen Herberge, der -wie viele hier- über die inflationsbedingt unaufhaltsam fortschreitende Verarmung des Mittelstands, die Konzeptlosigkeit einer unverantwortlichen, korrupten Politikerkaste und die gefühlt zunehmende Unsicherheit klagte. Die Herberge selbst erwies sich später als für diskrete Seitensprünge buchbares Stundenhotel; insgesamt war in dieser Nacht dort jedoch wesentlich weniger Verkehr als tagsüber auf der Panamericana.
Campana liegt an einer der wenigen funktionierenden Zugstrecken in Argentinien, eine Infrastruktur, die seit ihrem Bau 1876 durch eine englische Privatgesellschaft und seit der Verstaatlichung 1948 unverändert, d.h. investitionsfrei verwahrlosend, die Zeiten überdauerte: originale Bahnhofsgebäude, links fahrende Dieselloks und ein vorsintflutliches Signalsystem. Staatlich subventionierte 85 Euro-Cents kostete mich das Ticket für die 3,5 stündige Fahrt zurück nach Buenos Aires. Im desolaten Fahrradabteil eine stark alkoholisierte Gruppe von Fußballfans, die wie eine wildgewordene Affenbande zu entstellten Liedern auf die Metallwände des Waggons eintrommelte – der politisch so nachhaltig umworbene und doch vergessene Rest der Gesellschaft. Ich wich keinen Meter vom Fahrrad und knurrte ein drohendes cuidado!, sobald sich einer torkelnd näherte. Das bis auf einen spontanen Flashmob von etwa 150 Radakrobaten österlich ruhige Buenos Aires durchradelte ich von Retiro bis zum Bahnhof Constitución für eine Verbindung in den Süden, zur Provinzhauptstadt La Plata. Diesmal brach in meinem Abteil gar eine spontane Schlägerei zweier bekiffter Banden aus. Diese beiden Zugfahrten gehören zu den anstrengendsten und gefährlichsten Situationen, die ich auf meiner Reise erlebt habe.
In der geometrisch angelegten Stadt fand ich mich leicht zurecht und radelte am nächsten Morgen ausgeruht ins flache Hinterland gen Süden, nach Magdalena, der ländlichen Kleinstadt mit schöner Kolonialarchitektur aus dem 19.Jahrhundert.
Am Ufer des „löwenfarbenen“ Río de la Plata, in der Ruhe der unendlichen, weiten Ebenen der Pampa endete meine Radreise in Südamerika. Dieses zurückliegende Jahr, all die Gedanken, die Landschaften und die Begegnungen seither – was mehr, was weniger als: Streifzüge.

Harte Landung – Schlaflos in Buenos Aires

„Denn ich bin ein Mensch gewesen, Und das heißt ein Kämpfer sein.“
W.Goethe, Westöstlicher Diwan

Schneegestöber verabschiedet mich frühmorgens am Flughafen. Am Tag zuvor hatte ein Generalstreik die komplette Region lahmgelegt, und ich bin froh, den langen Warteschlangen zu entkommen. Ein letzter schmerzlicher Blick auf die weißen Gipfel; drei Stunden und 3080km später bin ich dann schon in Buenos Aires. In der 13-Millionen-Einwohner-Stadt erwarten mich nun andere Herausforderungen: die meisten Unterkunftsangaben aus meinem Reiseführer erweisen sich als nicht mehr aktuell, in Telephonzentralen am Flughafen improvisiere ich notdürftig. Der Taxifahrer zu einer Adresse in Palermo Soho schaltet unterwegs den Taximeter ab und erpresst mich mit dem dreifachen Fahrpreis. Mit insgesamt 40kg sperrigem Gepäck will man nicht irgendwo in einem Vorort auf der Straße stehen. Ich komme am Hostal an, erster Eindruck: kann nur noch besser werden. Schimmelteppich an den Wänden, Türschloss kaputt, die Toilettenspülung nur mit einem beherzten Griff in den Spülkasten bedienbar, auf eine genauere Inspektion der Dusche habe ich lieber gleich verzichtet. Wie man von einem Tag auf den anderen plötzlich so in der S. sitzen kann! Erster Erkundungsgang zum nächsten Park. Zwar gilt Palermo noch als besseres Viertel, doch die Leute gehen sichtlich in Angst: Rucksack vorne, scheue Blicke, kein Lächeln. Verwirrte Gestalten allenthalben, Müllsammler ziehen ihre traurigen Karren durch die hohen Straßenschluchten, Wohnanlagen hinter Metallzäunen, Geschäfte öffnen nur auf Klingeln hin ein kleines Fenster. Ich kehre müde in meine Unterkunft zurück. Bis morgens um 4Uhr hält mich Musiklärm aus dem Innenhof wach, um 5Uhr weckt mich eine dunkle Gestalt, ein neu ins Zimmer kommender Übernachtungsgast, aus dem Halbschlaf. Morgens lümmeln Bierleichen im Foyer und blicken starr ins Leere. Ich rufe ein Taxi, um ins Zentrum zu wechseln, von hier aus nur noch aufwärts. Eine tiefe Melancholie liegt über dieser apathischen Stadt.

Hart am Wind – Grenzgänge auf Feuerland

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Wind ist Luft in Bewegung; patagonischer Wind ist Luft, die es eilig hat.

Drei Tage rang ich mit Wind und Regen und kämpfte mich entlang der Küste über Cámeron gen Süden. Fischer saßen auf ihren einfachen Blechhütten am Ufer und blickten in den Sonnenuntergang, Pferde nickten mir anerkennend zu. Am dritten Tag teilten mir vorüberfahrende Polizisten mit, daß aufgrund des starken Regens der vergangenen Tage der Grenzfluß nach Argentinien, Río Bellavista, stark angeschwollen und die Grenze derzeit daher geschlossen sei. Sollte all die Mühe vergebens gewesen sein? Am Abend des nächsten Tages erreichte ich die Grenze, fünf Häuschen im Nirgendwo. Ich war auf alles gefasst, auf die Überzeugungsarbeit, die ich würde leisten müssen, auf nächtliche Fluchtversuche, doch als ich anlangte, war da – niemand. Ich stand vor der Absperrung und wartete. Nichts geschah. Kafkas Schloß: die Tür ist offen, aber „du darfst da nicht durch„. Ich schob eines der orangenen Hütchen beiseits und radelte weiter. Nach 100m begann argentinische Straßenbeschilderung und nach weiteren 100m stand ich am Fluß, sehr breit und mit kräftiger Strömung, aber zu Fuß durchaus passierbar, am anderen Ufer die Lichter der argentinischen Grenzstation. Da stand ich nun in der einbrechenden Dämmerung – und zögerte. Das war ein Moment, der aus der Handlung fiel, der Moment einer inneren Freiheit, in dem man seine Handlungsoptionen mit ihren Folgen klar überblickt, ein Moment, in dem man sein Schicksal ist. Plötzlich schien alles zu einfach – ich wendete und kehrte nach Chile zurück. Herzlich nahm mich die Familie des Zöllners auf, bewirtete mich mit hausgemachtem Brot, und nach und nach konnte ich den bedenklichen Mann für das Abenteuer gewinnen, mir die Ausreise zu stempeln und mir über den Fluß zu helfen. Wir waren gerade bei „Pasta fronteriza„, als ein aufgeregter Nachbar die Nachricht überbrachte: um 20.46 Uhr ereignete sich 96km vor der Küste Iquiques ein Seebeben der Richter-Stärke 8,3. Wir verfolgten im Fernsehen die immergleichen Bilder, untermalt von Interviews mit „Katastrophen-Experten“ (sic!, s. dazu Martenstein): die Evakuierung der gesamten chilenischen Küste (später folgten Peru, Ecuador, Kolumbien), die minutengenau berechneten Eintreffzeiten der Tsunami-Wellenfront, endlose Autoschlangen, erste Plünderungen und ein Großbrand in Iquique. Wir saßen hier auf einer Insel der Seligen, während um uns herum die Welt im Chaos versank. Ich dachte an Chatwin: „somewhere to live when the rest of the world blew up“. Gegen Mitternacht kam ein Auto von der Grenzpolizei, die den Pass für dieses Jahr endgültig schloß, gegen ein Uhr gingen wir zu Bett.
Ich hatte das Glück, am nächsten Morgen Claudio einen Tag lang bei seiner Arbeit begleiten zu dürfen, der für die staatliche Organisation SAG (Servicio Agrícola y Ganadero) kontinuierlich die Entwicklung der Arten auf der Insel überwacht – ich hätte keine bessere Einführung in Fauna und Flora Feuerlands erhalten können. Am späten Nachmittag brachte er mich zur Kreuzung Onaisín, die ich vor vier Tagen passiert hatte, und mit dem kräftigen Westwind im Rücken radelte ich die verbleibenden 45km zur argentinischen Grenzstation, wo mir ein gemütlicher, beheizter Warteraum zur Nachtruhe diente.

In Patagonien

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„There was no sound but the wind, whirring through thorns and whistling through dead grass, and no other sign of life but a hawk, and a black beetle easing over white stones.”

B.Chatwin, In Patagonia

„Alles atmete Schweigen und Einsamkeit. Und trotzdem empfindet man bei der Betrachtung solcher Landschaften, in denen kein auffallender Gegenstand den Blick fesselt, ein schwer bestimmbares, aber sehr lebhaftes Gefühl von Vergnügen.“

C.Darwin

Vor allem jetzt, beim Zusammenstellen der Bilder, wenn ich all diese Aufnahmen, unauslöschliche Erinnerungen, ohne das beständige Zerren des Windes betrachte, wird mir bewußt, was für eine intensive Zeit wir miteinander verbracht haben, wie umfassend wir uns so viele Facetten des Landes erschlossen haben: die großen Magneten der Region, die gewaltigen, bis zu 60m hohen Eismassen des Gletschers Perito Moreno, bläulich schimmernde Skulpturen in Eis, die aufragenden Felsnadeln des Cerro Torre, die wie der Scheinriese Tur Tur in M.Endes „Jim Knopf“ beim Nahen unscheinbarer, gewöhnlicher wirken, die Steinsäulen der Torres del Paine, deren Wolkenflaum sich lichtete, gerade als wir wandernd sie erreichten, das farbige, gelassene Fischerdorf Puerto Natales.
Und dann kam – dann kam Feuerland: unendliche Weiten, eine Monotonie, die alle Gedanken aufsaugt, eine Leere, die dich auflöst, eine Einsamkeit, in der du dich findest und verlierst.
Zwei Nächte teilten wir, in unseren Schlafsäcken vor dem Kamin, auf ihrer Estancia mit Rodrigo und Irma, deren anspruchsloser, geerdeter Herzlichkeit wir uns vertrauensvoll überließen. Wir spürten die Heftigkeit des patagonischen Windes in der vulkanischen Ödnis des Parks Pali Aike, wir spürten unsere Ausgesetztheit, als wir kurz vor dem Ende aller Straßen, kurz nach Puerto Yartou, in feuchter Kühle auf der regenaufgeschwemmten Straße steckenblieben und unseren kleinen Mietwagen Meter für Meter den schlammigen Steilhang hinaufstemmten.
Das Leben hier ist nah noch an Natur und Ursprünglichkeit, auf sich selbst zurückgeworfen, zugleich einfacher und härter als das, in das meine Mutter nun wieder zurückkehrte.

Ans Ende des Regenbogens – Die Carretera Austral südwärts

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Tho‘ much is taken, much abides; and tho‘
We are not now that strength which in old days
Moved earth and heaven, that which we are, we are;
One equal temper of heroic hearts,
Made weak by time and fate, but strong in will
To strive, to seek, to find, and not to yield.
            A.Tennyson, Ulysses

Nach Río Tranquilo ging’s dann wieder weiter auf dem harten Schotter der Carretera Austral, zunächst entlang des Westufers des türkis leuchtenden Lago General Carrera, dem zweitgrößten See Südamerikas, den Chile sich mit Argentinien teilt, dann unter Gletschern durch eher trockenes Steppen- und Grasland. Über der Landschaft lag eine geradezu mystische Stille. Entlang der gesamten 1200km langen Carretera leben nur etwa 100.000 Siedler, die Hälfte davon in Coyhaique. Der Süden dieser seit ’76 unter Pinochet begonnenen, erst 1999 bis Villa O’Higgins vorgedrungenen Schneise in die Wildnis ist spürbar karger, härter und einsamer als der Norden. Aus vereinzelt im Nadelwald verborgenen, dürftig zusammengezimmerten Holzhütten blickten dunkle schnauzbärtige Männer mit Baskenmützen. Nur für ein Vierteljahr liegt die monatliche Durchschnittstemperatur über 5-7°C, der erforderlichen Temperatur für die Bildung eines nährstoffreichen Bodens. Die Leute leben daher hauptsächlich von Holz- und Viehwirtschaft, und oft sah ich auf Holzgestellen enthäutete Tierkadaver.
Man sagt, wer sich in Patagonien beeile, verliere seine Zeit, aber ich war auf dem Wettlauf, die für den 8.März gebuchte Fährüberfahrt in Villa O’Higgins zu erwischen. Nach einer Nacht am Lago Bertrand brach ich mit dem ersten Sonnenstrahl, der über die schneebedeckten Vulkane spitzte, auf und erreichte über eine stark ondulierende Waschbrett-Piste Cochrane, „la ultima frontera“, die letzte passable Versorgungsstation. Der einzige Geldautomat dort war in Reparation, was aufgrund meiner schwindenden Bargeldreserven meinen Speiseplan für die nächsten Tage auf Brot, Pasta und Reis beschränkte. In dieser kleinen Siedlerstadt traf ich wieder Mike, der nach einem Hundebiss dort zu einer vierwöchigen Zwangspause mit Tollwut-Impfungen gezwungen war.
Ich radelte unermüdlich weiter, farbige Lagunen, nebelverhangene Gletscher und glasklare Wasserfälle, leaping into the dark bis 21 Uhr, kurzes Nachtlager entlang der Straße, um 5 Uhr wieder auf dem Sattel, in der regnerischen Dunkelheit vorbei an den nachtschwarzen Silhouetten einsamer Gehöfte, gejagt von Hundegebell, getrieben von der unerbittlich verstreichenden Zeit: 74km waren es nach meiner Karte bis zu der um 12 Uhr übersetzenden Fähre in Puerto Yungay, die mich auf das letzte 100km-Teilstück bis Villa bringen sollte. Etwa auf der Höhe von Cerro Castillo wechselt die Carretera sanft von der feuchten West- auf die Ostseite der Anden, die südlich von Cochrane, stark abgeflacht, feuchte Meerluft passieren lassen, Luft, die sich über den beiden riesigen Inland-Eisfeldern Campo de Hielo Norte und Sur abkühlt. Merklich ging die Vegetation wieder in Regenwald über, in Nalca-Blätter, Schlingpflanzen und Moose.
Gegen 10 Uhr erreiche ich die Abzweigung nach Puerto Yungay, das Straßenschild droht mit 30km, eine nicht endenwollende Schottersteigung hinauf auf 450m, auf der mich der Bus aus Cochrane überholt – mit dem aus dem Fenster grüßenden Jens an Bord. Letzte Kraftreserven mobilisierend, eine halsbrecherische Abfahrt über Schlaglöcher, das Fjord in der Ferne, die letzten Meter zum Hafen, noch einmal steige ich kräftig in die Pedale und schieße mit einem Jubelschrei der Erleichterung über die Laderampe. Zwei Minuten später lichtet das Schiff die Anker.
Am frühen Nachmittag des nächsten Tages radle ich erschöpft aber glücklich im 500 Seelen-Dorf Villa O’Higgins ein, am Ende des Regenbogens, am Ende der Carretera Austral und auf jeden Fall am Ende der zivilisierten Welt.
Seit Río Tranquilo hatte ich 350km und 5.650 Höhenmeter zurückgelegt.

Momos Puppe

Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
T.W. Adorno, Minima Moralia

Als Radreisender kennt man das Gewicht der Dinge, mit Wenigem auskommend, kennt man ihre Last.
Hier sind Dinge wieder wichtig; anders als die andinen Länder folgen die Chilenen unserem westlichen Dreischritt von Haus-Auto-Familie: sie fahren große europäische und amerikanische Markenautos, nouvelle gamme, tragen modische Sonnenbrillen und Schmuck, bestücken ihre Häuser mit dem Plastikschrott gigantischer Bildschirme, indes sich die Keller mit Altlasten füllen, mit Hausrat und Elektronikgerümpel, mit Adaptersteckern und Verbindungskabeln, mit Zeug, das einmal wieder nützlich sein könnte, wenn man es in dem Chaos wieder finden würde.
Dinge ziehen uns in ihr Universum, hüllen unser Leben in Watte, suggerieren uns Macht, weil wir sie bedienen, also beherrschen. Sie fordern nichts, nur das Wertvollste, das wir haben: Zeit. Wie Momos Puppe, das Danaer-Geschenk der grauen Herren, wollen sie Zuwendung: die wöchentliche Politur, das neue Update, die Überspielung der alten Kontaktdaten-Leichen – und vor allem: „mehr Sachen“, zum Handy das Plastikkleid, für die Ledersitze den Schonbezug. – Die Supermärkte hier haben 50 Kassen.
Auch kleinste Beträge werden bei Kreditkartenzahlung in quotas abgebucht, in schmerzlosen Monatszahlungen, die über Jahre hin weiterlaufen, wenn die Sachen, der erkaufte Glücksmoment, längst ersetzt und verbraucht sind. Die Leute verschulden sich so im Kaufrausch Mitte Zwanzig und rackern 10-15 Jahre, um sich aus der Falle wieder zu befreien. In Deutschland hat dieser Wahnsinn, mit der Einführung kaufhauseigener Kreditkarten, auch schon angefangen. Der Bankrott auf Raten.

It’s a small world after all

PMontt
Später Aufbruch und heftiger Gegenwind hatten mich gezwungen, schon in Puerto Montt Station zu machen. Da saß ich nun am Küchentisch eines älteren wohlsituierten chilenischen Ehepaares, der Schwiegersohn aus Österreich, die Schwiegertochter aus Virginia, der Hund aus Neufundland, und parlierte mit der Koreanischen Reis(e)gruppe auf Englisch, Deutsch und Französisch. Bei Nennung meines Namens stimmten die Weitgereisten spontan Simon&Garfunkel’s „Bridge over troubled water“ an. So hatte ich das noch nie gehört.
Meine Zeltnachbarn stellten sich am nächsten Morgen als Dresdner vor und unterhielten bestens mit Anekdoten ihrer patagonischen Inlandeis-Erkundung: vom Schreck der Angestellten, als sie am Flughafen in Santiago schwerbepackt mit Rädern und ihren voluminösen trineos aufkreuzten…
Am Nachmittag, auf dem Fährtrajekt auf die mythische Insel Chiloe, sprach mich ein radbegeisterter Chilene an: wie sich herausstellte, wohnt seine Schwester in Plattenhardt, sozusagen im Nachbardorf. Je weiter man reist, desto kleiner wird die Welt, je näher man die Menschen ansieht, desto ferner sehen sie zurück.

Im Seenland

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Strömender Regen. Ich rettete mich in ein hospedaje, wo sich Alain gerade einen Kräutersud braute: ein freundlich-uriger Rad-aficionado aus Frankreich, der seit vielen Jahren auf seinem Faltrad die Welt erkundet. Gemeinsam setzten wir unseren Weg durch die chilenische Seenlandschaft fort.
Kurz vor Los Lagos lud uns eine Familie auf ihr luxuriöses Grundstück ein: die Eigentümer eines großen chilenischen Spirituosen-Herstellers. Ich nutzte die erfrischende Pause zu einer Spritztour mit dem Kayak auf dem Río Calle-Calle, dessen Lauf wir bis Valdivia folgten. Yohana und Conny, die ich dort wieder traf, übernahmen die Führung durch die geschichtsträchtige Stadt: von den Spaniern seit 1552 als strategisch günstiger Seehafen genutzt, lokalisierte sich hier früh der Konflikt mit den ansässigen Mapuche, der derzeit politisch wieder an Brisanz gewinnt. Im 19.Jahrhundert gründeten deutsche Aussiedler die ersten Brauereien, von denen viele allerdings 1960 dem stärksten Erdbeben der Welt und dem folgenden tsunami zum Opfer fielen. Die deutsche Kultur hat sich jedoch bis heute in gepflegter Separation mit eigenen Schulen und Krankenhäusern erhalten.
Nach einer Zeltnacht entlang der Ruta 5, der gut ausgebauten Hauptachse Chiles, und 148km monotonen Tageskilometern radelte ich am späten Abend in Puerto Varas ein, dem vollbesetzten Backpacker-Zentrum am Lago Llanquihue.
Via Villarrica – Lican Ray – Panguipulli – Los Lagos – Valdivia – Osorno habe ich seit Temuco 540km und 4.644 Höhenmeter zurückgelegt.

Universal happiness

“Universal happiness keeps the wheels steadily turning, truth and beauty can’t.” – “All right then,“ said the savage defiantly, I’m claiming the right to be unhappy.“

A. Huxley, Brave New World

Weil ausgedehntere Freiräume im deutschen Standardcurriculum nicht vorgesehen sind, wird man als Reisender beständig vom Verwaltungsapparat belangt. Ich gebe ein -prominentes- Beispiel: meine Krankenversicherung. Um einen ihrer gesündesten Klienten nicht zu verlieren, hatte sie der erweiterten Abdeckung im außereuropäischen Ausland zunächst zugestimmt, mir in der Verlängerung dann aber den Versicherungsschutz entzogen. Einer Versicherung, die mich faktisch nicht versichert, spendiere ich nicht monatlich einen Vierteltausender – Kündigung? Unmöglich: die Versicherung zeigte sich plötzlich besorgt um den Nachweis einer Auslands-Kv. Hier hat zwar kaum jemand eine Kv (und die Leute werden trotzdem alt), aber als Europäer wird man im Freiflug nervös. Zwei Monate habe ich mich um den Abschluß einer Auslands-Kv bemüht: alle lehnten ab mit dem Hinweis auf die in Beton gegossene Regelung, der Vertrag müsse mindestens einen Tag vor Reiseantritt gezeichnet werden. Der klassische Fall eines circulo vitioso. Erst durch die Vermittlung der Familie Los Pinos konnte eine hiesige Versicherung ausfindig gemacht werden. Nach unzähligen weiteren administrativen Komplikationen mit meiner ausländischen Kreditkarte bin ich seit heute wieder versichert. Muchas gracias Cecilia y Paulina!

Si nos quedara poco tiempo

Es begann mit einem lieben handgeschriebenen Zettel, den ich eines Abends auf meinem Tisch im Empanada-Restaurant vorfand. Ich folgte der Einladung und verbrachte mit Natalia, Conny, Yohana und Ricardo schöne, unbeschwerte Sommertage in seiner Holzhütte in Lican Ray, am See Calafquén.

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Queridas Amigas, Querido Amigo,
en este tiempo con ustedes compartí la fuerza, la energía de una juventud que quiere descubrir y vivir todas estas lindas sorpresas que la vida nos depara. Apprendí del alcance que tienen las alas de alegría, de la abundancia si nos avenimos atrevidamente a un encuentro, al mundo que cada uno lleva. Que nunca admitamos que la vida se vuelve en una rutina!
Agradecido por todo
Simon