A deep dive into Bolivia

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in den Süden des Landes, zur weißen Salzwüste des Salar de Uyuni, über die Lagunenroute mit ihren weiß, grün, rosa und tiefrot schillernden Seen und Scharen von Flamingos durch die unbewohnte Hochwüste bis an die chilenische Grenze. Wir erlebten Potosi, einst die reichste Stadt der Welt, deren Aufstieg und Fall E.Galeano in seinem Opus Magnum paradigmatisch 30 Seiten widmet: einst von prächtigen Villen gesäumte silbergepflasterte Straßen, heute in drückende Armut verfallen und einsam in der Tiefe des Schicksalsberges Cerro Rico mit Hammer und Pickel Spuren von Restsilber schürfende Verzweifelte – Beckett’s Welt. Abends aber trafen wir in den Straßen auf fröhliche, ausgelassen tanzende Gruppen junger Menschen, eben trotz allem. Vom Pferderücken aus erkundeten wir die surrealistischen Felslandschaften im tiefen Süden bei Tupiza. Nach einer rasanten Fahrradabfahrt über die berüchtigte Todesstraße, einer auf 65km steil und ungesichert von 4600m auf 1500m in die reiche Vegetation der Yungas abfallenden Schotter-Straße, ließen wir unsere Rundreise in Coroico unter Palmen und lianenverhangenen Wäldern ausklingen.
Für einen Bericht über unsere gemeinsame Zeit konnte ich meinen Bruder Andrej gewinnen.

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Wer eine Reise macht, der hat etwas zu erzählen. Um in die Ehre eines Gastbeitrags auf welterfahren.com zu kommen, muß man das Unterfangen auf sich nehmen, Simon 12 Tage auf seinen Abenteuern zu begleiten.
Mancher Leser mag wie ich im Geist ‚Reisen‘ als Synonym für ‚Urlaub‘ betrachten. Während Simon sich derzeit der globalen Entdeckung widmet, fokussiere ich mich eher auf die lokale Wertschöpfung. Reisen hat bei mir nur als erholsame Abwechslung einen Platz – voller Annehmlichkeiten und Service mit dem Ziel der Entspannung und moderat neuen Eindrücken. Diese Art von Reisen ist komfortabel – aber auch austauschbar. Die Hotels in Paris, Malta oder Oslo unterscheiden sich nicht grundlegend. Simon’s Reisen dagegen stehen unter dem Motto der ‚street-credibility‘, des authentischen Nachvollziehens fremder Kulturen und Lebensweisen.
Das fordert Kompromisse, zeitlich, gesundheitlich und im Lebensstandard. Als Leser dieses Blogs sind wir alle von den farbenprächtigen Fotos, munteren Reiseberichten aus der Ferne und dem ansteckenden Freiheitsbewußtsein unseres jungen Abenteurers fasziniert und inspiriert. Der Energieaufwand und die Opfer, die ein solches Leben-on-the-go fordern, verlieren wir dabei gerne aus den Augen.

In meinem Beitrag eines Außenstehenden, der nur vorübergehend in dieses Erlebnis eintauchte, möchte ich daher auf ein paar dieser Besonderheiten spezifisch in Bolivien eingehen.

Zeit
Nirgendwo ist die Relativität der Zeit plastischer zu erleben als in Bolivien. Unsere Uhren aus (unberechtigter) Angst vor Kriminalität zuhause lassend, waren wir vor Ort Spielball der lokalen Zeitdefinition. Eine illustrierende Geschichte: Wir waren gerade von einem 3-Tagestrip über den weltgrößten Salzsee, Lagunen und spektakuläre Felslandschaft nach Uyuni, einer kleinen Wüstenstadt, zurückgekommen und planten unsere Weiterreise nach Potosi.
Nach erster Auskunft fuhr der nächste Bus um 7 Uhr. Wir begaben uns in ein Restaurant, mein Handy zeigte 6 Uhr. Die Kellnerin trieb uns jedoch zur Eile an mit ihrer Zeitangabe von 6.20 Uhr. In großer Hast zurück zum Busbahnhof schockte uns dort der Bahnhofsturm: 7.25 Uhr! Die Uhr im Ticketbüro sorgte wiederum für Beruhigung, der Zeiger stand auf 6.55 Uhr. Die offizielle Busabfahrt war nun doch für 7.10 Uhr geplant, vom Bus zu diesem Zeitpunkt jedoch weit und breit keine Spur. Letztlich erst gegen 7.40 Uhr machte sich der Bus auf den Weg nach Potosi.
Während in Europa Zeit in nüchterne Maßeinheiten eingegliedert ist, wird in Bolivien Zeit noch demokratisch definiert.

Hygiene
Meine kleine sterile Londoner Office-Welt hinter mir lassend, traf mich der markanteste Schock angesichts der hiesigen Armut.
Das Leben spielt sich in Bolivien auf der Straße ab. Marktstände an allen Ecken, Essensverkauf und Verzehr, Familientreffen, spielende Kleinkinder und herumstreunende Straßenhunde – ein buntes Treiben direkt neben den beißenden Abgasen und dem tosenden Lärm des Verkehrschaos. Mehrere Tage unserer Reise außerhalb der Großstädte mußten wir ohne fließend Wasser auskommen. Das Plumsklo ist in vielen Gegenden ein derartiger Luxus, das man zur Benutzung Eintritt zahlen muß.
Jedes Essen stellt ein Wagnis dar – ein Wagnis, das sich oft genug nicht bezahlt macht.

Natur
Während das ursprüngliche Ungetüm Natur in Europa weitestgehend domestiziert ist und eher noch aus Mitleid bei manchen Lobbygruppen Unterstützung findet, wird Bolivien von der Natur beherrscht. Das Land ist groß und geographisch herausfordernd. Auf einer Fläche, die viermal so groß ist wie Deutschland, leben rund 10 Millionen Einwohner. Bolivien ist zwiegespalten in ein Hochplateau auf rund 3500 Meter und einer vom Regenwald besetzten Tiefebene. 80% der Bevölkerung Boliviens leben höher als die deutsche Zugspitze.
Eine Infrastruktur läßt sich hier nur schwer aufbauen. Das Land gilt als unregierbar. Vor der aktuellen Regierung gab es in 99 Jahren 100 verschiedene Präsidenten. Nachdem Simon Bolivar 1824 namensgebend Bolivien von der spanischen Besatzung befreite, ging jeder spätere Krieg gegen Nachbarstaaten verloren.
Dennoch – die erhabene Schönheit der Natur und mit die größte Ressourcen-Schatzkammer der Erde verführen die Menschen, sich hier ein karges und erschöpfendes Leben zu ertrotzen.

Als Reisender erbringt man diese Opfer und Strapazen tatsächlich gerne – sie sind leicht vergessen im Anblick der erstaunlichen Naturschauspiele, sei es der überwältigenden Salzwüste, der mysteriösen Geysire, der bizzaren Felslandschaft um Tupiza oder des zauberhaften Arbol de Piedra.

Während meine Mutter und ich uns nun wieder auf den 23 Stunden Flug nach Hause begeben haben, erobert Simon weiterhin erlebnishungrig Südamerika. Meter für Meter.

Andrej Kuttruf