Ein ruhiger Nachmittag am Strand, ich liege auf dem Rücken in der Sonne und hänge meinen Gedanken nach. Hoch oben, ganz hoch oben, kreisen Vögel im Wind. Erst nach und nach ist mir in den vergangenen Wochen bewußt geworden, welche Freiheit ich mir für diese Reise genommen habe: ohne Verpflichtungen, nur für mich zu leben.
Vorbeiradelnd sah ich in Cartagena einen hellhäutigen Mann in voller Anzugsmontur vor seinem Hotel stehen, schwitzend bei 38ºC, aber mit ernster, wichtiger Miene. Anmaßender Europäerblick hinter der Sonnenbrille auf das Straßenchaos außerhalb des Stacheldrahtzauns. Offenkundig „nicht zum Vergnügen“ hier, sondern „beruflich„, um einen Liefervertrag für schnell nachwachsendes Guadua-Holz auszuhandeln vielleicht, oder die Marktchancen einer neuen Fastfood-Filiale abzuschätzen. Jedenfalls nicht zum persönlichen offenen Erfahren, sondern in einer bestimmten, ihm gesellschaftlich oder firmenintern übertragenen Rolle und Funktion. Die Ökonomie hier ist ganz anders strukturiert: nur wenige Großunternehmen, wenig geborgte Autorität, jeder ist – mit oder ohne Ausbildung – sein eigener Unternehmer: im Straßenverkauf von Arepas, Mangos oder Kokosnüssen, im Handel mit Konsumgütern wie in den zahlreichen drogerias rebajas, in der Produktion von Fensterrahmen aus Aluminium, in der Herstellung von handgenähten Poloshirts oder Hemden – Industrien, die ich im vergangenen Monat besichtigen durfte.
Das hängt, scheint mir, mit den verschiedenen gesellschaftlichen Bezugsgrößen zusammen: wir Europäer bilden uns so viel ein auf unseren Individualismus, haben aber eigentlich unsere Eigenverantwortung an die Gesellschaft abgetreten: Telefonieren auf dem Fahrrad wird mit 25€ geahndet, das Überqueren roter Ampeln verursacht generell einen moralisch entrüsteten Aufschrei der anderen vorgeblich um irgendeine Vorbildfunktion besorgten Passanten. Hier ist die gesellschaftliche Keimzelle nicht der Staat, sondern die Familie, die ihre Rollenerwartung konkreter, zugleich aber auch weniger absolut, flexibler, stellt.
Mittlerweile spüre ich auf meinem Rücken ein brennendes Rot zwischen dem Negativabdruck zweier Hände – wir Individualisten können uns nicht einmal gleichmäßig den Rücken eincremen!