Hart am Wind – Grenzgänge auf Feuerland

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Wind ist Luft in Bewegung; patagonischer Wind ist Luft, die es eilig hat.

Drei Tage rang ich mit Wind und Regen und kämpfte mich entlang der Küste über Cámeron gen Süden. Fischer saßen auf ihren einfachen Blechhütten am Ufer und blickten in den Sonnenuntergang, Pferde nickten mir anerkennend zu. Am dritten Tag teilten mir vorüberfahrende Polizisten mit, daß aufgrund des starken Regens der vergangenen Tage der Grenzfluß nach Argentinien, Río Bellavista, stark angeschwollen und die Grenze derzeit daher geschlossen sei. Sollte all die Mühe vergebens gewesen sein? Am Abend des nächsten Tages erreichte ich die Grenze, fünf Häuschen im Nirgendwo. Ich war auf alles gefasst, auf die Überzeugungsarbeit, die ich würde leisten müssen, auf nächtliche Fluchtversuche, doch als ich anlangte, war da – niemand. Ich stand vor der Absperrung und wartete. Nichts geschah. Kafkas Schloß: die Tür ist offen, aber „du darfst da nicht durch„. Ich schob eines der orangenen Hütchen beiseits und radelte weiter. Nach 100m begann argentinische Straßenbeschilderung und nach weiteren 100m stand ich am Fluß, sehr breit und mit kräftiger Strömung, aber zu Fuß durchaus passierbar, am anderen Ufer die Lichter der argentinischen Grenzstation. Da stand ich nun in der einbrechenden Dämmerung – und zögerte. Das war ein Moment, der aus der Handlung fiel, der Moment einer inneren Freiheit, in dem man seine Handlungsoptionen mit ihren Folgen klar überblickt, ein Moment, in dem man sein Schicksal ist. Plötzlich schien alles zu einfach – ich wendete und kehrte nach Chile zurück. Herzlich nahm mich die Familie des Zöllners auf, bewirtete mich mit hausgemachtem Brot, und nach und nach konnte ich den bedenklichen Mann für das Abenteuer gewinnen, mir die Ausreise zu stempeln und mir über den Fluß zu helfen. Wir waren gerade bei „Pasta fronteriza„, als ein aufgeregter Nachbar die Nachricht überbrachte: um 20.46 Uhr ereignete sich 96km vor der Küste Iquiques ein Seebeben der Richter-Stärke 8,3. Wir verfolgten im Fernsehen die immergleichen Bilder, untermalt von Interviews mit „Katastrophen-Experten“ (sic!, s. dazu Martenstein): die Evakuierung der gesamten chilenischen Küste (später folgten Peru, Ecuador, Kolumbien), die minutengenau berechneten Eintreffzeiten der Tsunami-Wellenfront, endlose Autoschlangen, erste Plünderungen und ein Großbrand in Iquique. Wir saßen hier auf einer Insel der Seligen, während um uns herum die Welt im Chaos versank. Ich dachte an Chatwin: „somewhere to live when the rest of the world blew up“. Gegen Mitternacht kam ein Auto von der Grenzpolizei, die den Pass für dieses Jahr endgültig schloß, gegen ein Uhr gingen wir zu Bett.
Ich hatte das Glück, am nächsten Morgen Claudio einen Tag lang bei seiner Arbeit begleiten zu dürfen, der für die staatliche Organisation SAG (Servicio Agrícola y Ganadero) kontinuierlich die Entwicklung der Arten auf der Insel überwacht – ich hätte keine bessere Einführung in Fauna und Flora Feuerlands erhalten können. Am späten Nachmittag brachte er mich zur Kreuzung Onaisín, die ich vor vier Tagen passiert hatte, und mit dem kräftigen Westwind im Rücken radelte ich die verbleibenden 45km zur argentinischen Grenzstation, wo mir ein gemütlicher, beheizter Warteraum zur Nachtruhe diente.