Sachertorte

Ein gängiges Klischee unterstellt dem Südamerikaner Unehrlichkeit im Umgang mit Geld; kein Reiseführer, der nicht vor Falschgeld und Wechselgeldhehlerei warnte. Dieses Klischee ist falsch. Ich habe nie Probleme mit Falschgeld gehabt, nicht einmal, als ich in Buenos Aires in Hinterzimmern Dollars tauschte. Im Gegenteil: ich erinnere eine Situation, als ich in Riobamba, Ecuador, morgens ein Internetcafé betrat und die Besitzerin mir unter Entschuldigungen eine Münze in die Hand drückte – sie habe bei der Abrechnung bemerkt, daß mir ihre Tochter am Vorabend zuviel kassiert hatte.
Europäer scheinen solche Skrupel nicht zu kennen: ich habe in einem Monat Europa im Touristennepp mehr Geld verloren als in einem ganzen Jahr Südamerika (ausgenommen der Taxibetrug in BA). Und ich habe es satt, bei gefühlt jeder sechsten Dienstleistung für den ausstehenden Tourismus einer ganzen Saison bepreist zu werden. Zuletzt in Seu d’Urgell: nach der Pizza hatte ich eine Tasse Schokolade bestellt, der Kellner brachte stattdessen ein Stück Schokoladenkuchen. Nun, man will den Leuten nicht übermäßig auf die Nerven fallen, und der Kuchen sah gut aus – mir blieb allerdings der letzte Bissen im Hals stecken, als dieses unschuldige Schnittchen mit dem Preis einer ganzen Pizza auf der Rechnung stand. Ich beschwerte mich und verlangte eine gedruckte Preisindikation. Der camarero murmelte pikiert etwas von „torta casera“ und flippte minutenlang durch die Dessertkarten – immer war da nur das verlockende Bildchen einer Schokotorte. Der Chef wurde gerufen und brachte schließlich, woher auch immer, eine Liste mit dem entsprechenden Posten bei. Ich gab den case verloren.
Was ist die Lehre aus der Geschichte? Daß ich nun vor jeder Tasse Tee nach ihrem Preis frage? Viel dominanter als in der lateinamerikanischen bestimmt das Geld in unserer Kultur jede Interaktion, zumal die flüchtige des Reisenden, bis hinein in jede Beziehung. Adorno hatte ein feines Gespür für das Tauschprinzip: „Der Qualität eines jeden der ungezählten Autos, die am Sonntagabend nach New York zurückkehren, entspricht genau die Hübschheit des Mädchens, das darin sitzt.“ (Minima Moralia, „Ne cherchez plus mon coeur“)*. Denkstoff für das nächste Stück Sachertorte.

*Nebenbemerkung: Daher ist auch die von den selbsternannten Wächtern der Sittenmoral erwartbar in der letzten Vorweihnachtszeit angezettelte Diskussion um ein Prostitutionsverbot in Deutschland nichts anderes als: scheinheilig.