Streifzüge

Diese Diashow benötigt JavaScript.

„Was wir wollen, ist des Zufalls Spiel; Nur der Weg ist unser, nicht sein Ziel.“
nach W.Shakespeare, Hamlet

Mein Plan war, für die verbleibenden Tage ins 300 ebene Kilometer entfernte Rosario zu radeln, das als die kulturell zweitbedeutendste Stadt Argentiniens gilt. Ich stürzte mich also in den Verkehr, der es an Chaos durchaus mit der Stadtausfahrt von Bogotá aufnehmen konnte, und erreichte bald das erfrischende Grün des Küstenstreifens am Río de la Plata, dann die gediegenen Vororte San Isidro und Tigre, in denen sich die Porteños vom Stadtleben erholen.
Meine Exkursion sollte mich durch sämtliche Schichten der argentinischen Gesellschaft führen – am nächsten Vormittag zunächst durch die Siedlungen der Bessersituierten, deren schmucke Villen auf grünem Rasen hinter schwer bewachtem Drahtzaun liegen: Kameras, Wachtürme und bewaffnete Eingangskontrollen.
Gegen Mittag fand ich mich auf dem Standstreifen der sechsspurig ausgebauten Panamericana wieder, nach 120km die Sinnfrage: what am I doing here? Meine letzten Fahrradtage in Südamerika wollte ich nicht auf einer Autobahn verbringen. Es geht nicht ums Ankommen, um das Ziel, es geht ums Unterwegssein und die Erfahrungen unterwegs. Ich brach ab und radelte ins nächste Dorf, Campana bei Zárate. Die Linien, die man reisend auf die Landkarte zeichnet, müssen nicht schlüssig sein; Wege, wie Biographien, sind interessanter mit Brüchen, mit Wendungen und Zwischenfällen.
Campana erwies sich als rege, aber gemütliche Industriestadt, bekannt durch große Firmen der Ölindustrie und ansässige Unternehmen wie das italienische Siderca, das mit seinen schweißnahtlosen Röhren knapp ein Drittel des Weltmarktangebots stellt. Ich unterhielt mich darüber mit dem freundlichen Wirt meiner einfachen Herberge, der -wie viele hier- über die inflationsbedingt unaufhaltsam fortschreitende Verarmung des Mittelstands, die Konzeptlosigkeit einer unverantwortlichen, korrupten Politikerkaste und die gefühlt zunehmende Unsicherheit klagte. Die Herberge selbst erwies sich später als für diskrete Seitensprünge buchbares Stundenhotel; insgesamt war in dieser Nacht dort jedoch wesentlich weniger Verkehr als tagsüber auf der Panamericana.
Campana liegt an einer der wenigen funktionierenden Zugstrecken in Argentinien, eine Infrastruktur, die seit ihrem Bau 1876 durch eine englische Privatgesellschaft und seit der Verstaatlichung 1948 unverändert, d.h. investitionsfrei verwahrlosend, die Zeiten überdauerte: originale Bahnhofsgebäude, links fahrende Dieselloks und ein vorsintflutliches Signalsystem. Staatlich subventionierte 85 Euro-Cents kostete mich das Ticket für die 3,5 stündige Fahrt zurück nach Buenos Aires. Im desolaten Fahrradabteil eine stark alkoholisierte Gruppe von Fußballfans, die wie eine wildgewordene Affenbande zu entstellten Liedern auf die Metallwände des Waggons eintrommelte – der politisch so nachhaltig umworbene und doch vergessene Rest der Gesellschaft. Ich wich keinen Meter vom Fahrrad und knurrte ein drohendes cuidado!, sobald sich einer torkelnd näherte. Das bis auf einen spontanen Flashmob von etwa 150 Radakrobaten österlich ruhige Buenos Aires durchradelte ich von Retiro bis zum Bahnhof Constitución für eine Verbindung in den Süden, zur Provinzhauptstadt La Plata. Diesmal brach in meinem Abteil gar eine spontane Schlägerei zweier bekiffter Banden aus. Diese beiden Zugfahrten gehören zu den anstrengendsten und gefährlichsten Situationen, die ich auf meiner Reise erlebt habe.
In der geometrisch angelegten Stadt fand ich mich leicht zurecht und radelte am nächsten Morgen ausgeruht ins flache Hinterland gen Süden, nach Magdalena, der ländlichen Kleinstadt mit schöner Kolonialarchitektur aus dem 19.Jahrhundert.
Am Ufer des „löwenfarbenen“ Río de la Plata, in der Ruhe der unendlichen, weiten Ebenen der Pampa endete meine Radreise in Südamerika. Dieses zurückliegende Jahr, all die Gedanken, die Landschaften und die Begegnungen seither – was mehr, was weniger als: Streifzüge.